Krieg in der Ukraine: „Mehr Waffen bedeutet mehr Blutvergießen“

Jurij Scheljaschenko von der Ukrainischen Friedensbewegung
über gewaltfreien Widerstand, kollektive Sicherheit und
warum er Sanktionen gegen Russland skeptisch sieht.

Korrespondent Markus Schauta in der Wiener Zeitung vom 17.06.2022

Rund 10.000 tote Soldaten meldete die Ukraine seit dem russischen Überfall Ende Februar bisher, mehr als 4.000 Zivilsten kamen ums Leben. Enorme Opfer und Zerstörungen, doch diesen Preis ist Präsident Wolodymyr Selenskyj bereit zu zahlen angesichts der drohenden Unterjochung seines Landes durch Russlands Machthaber Wladimir Putin. Nur vereinzelt melden sich ukrainische Gegenstimmen; eine davon ist Jurij Scheljaschenko.

„Wiener Zeitung“: Die Ukrainische Friedensbewegung will sich Kriegsanstrengungen beider Seiten widersetzen. Wie ist das zu verstehen?

Jurij Scheljaschenko: Wenn wir über gewaltlosen Widerstand gegen das Militär sprechen, sollten wir verstehen, dass jene, die den Frieden lieben, sich nicht nur dem angreifenden Militär widersetzen. Vielmehr setzen sie sich gleichzeitig auch gegen das verteidigende Militär ein. Die Opfer dieses Krieges sind Zivilisten auf beiden Seiten der Fronten. Damit meine ich nicht nur direkte Opfer der Kampfhandlungen, sondern auch jene, die Angst ausgesetzt sind, von Kriegspropaganda getäuscht oder vom Staat gezwungen werden, sich an den Kriegsanstrengungen zu beteiligen. Zurzeit sind davon offensichtlich die Ukrainer mehr als die Russen betroffen, was daran liegt, dass es in Russland noch keine Generalmobilmachung gibt.
Hinzu kommen Kriegsverbrechen wie die Vergewaltigung ukrainischer Frauen durch russische Soldaten, Folter und Massenerschießungen von Kriegsgefangenen. Letztere werden von beiden Seiten verübt, wie die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, Anfang Mai festgestellt hat.

Wie äußert sich dieser gewaltfreie Widerstand?

Es gab von Beginn an aktiven Widerstand, indem Wegweiser übermalt, Straßen blockiert oder Proteste organisiert wurden. Wichtig ist dabei jedoch, dass die Protestaktionen nicht vom Militär instrumentalisiert werden, um militärische Ziele zu erreichen. Wegen des Fehlens einer Friedenskultur in post-sowjetischen Staaten ist der Widerstand des Volkes gegen den Krieg, nicht gegen eine bestimmte Armee, sondern gegen jede Armee und jede Regierung, jedoch meist passiv. Die Menschen geben vor, auf der Seite der Regierung zu stehen und die Armee zu unterstützen. Aber im Privatleben vermeiden sie es, sich im Krieg zu engagieren, was gut und verständlich ist. Das ist nicht nur in der Ukraine so, sondern auch in vielen anderen Gesellschaften. Wir kennen Beispiele aus dem Westen, wo Soldaten bei Erschießungen bewusst danebengeschossen haben oder die Schützengräben verließen, um mit den sogenannten Feinden Weihnachten zu feiern.
Die Menschen vermeiden also instinktiv die Teilnahme an einem Krieg. Kriegstreiber sagen, sie seien feige, Verräter, nicht enthusiastisch genug. Die Wahrheit ist, dass der passive Widerstand eines jener Elemente ist, die uns vor weiterer Eskalation, mehr Grausamkeiten und mehr Barbarei bewahren. Die Ukrainische Friedensbewegung kritisiert daher die Bestimmung der Regierung, wonach es Männern zwischen 18 und 60 Jahren verboten ist, die Ukraine zu verlassen. Keine Regierung hat das Recht, Zivilisten in die Kriegsanstrengungen zu verwickeln. Zivilisten haben das Recht, Zivilisten zu bleiben, ohne zur Teilnahme an Kampfhandlungen gezwungen zu werden.

Die Mehrheit westlicher Politiker scheint übereingekommen zu sein, immer mehr Waffen in die Ukraine zu schicken, um dadurch den Konflikt mit Russland zu lösen. Wie denken Sie darüber?

Mehr Waffen bedeuten mehr Blutvergießen und mehr tote Zivilisten. Indem Waffen geliefert werden, befürwortet man eine militärische Lösung des Konflikts. Offenbar ist man auch bereit in Kauf zu nehmen, was ein jahrelanger Krieg an Zerstörung und Tod für die Ukraine mit sich bringt. US-Verteidigungsminister Lloyd Austin zeigte sich (Anm.: bei der Ukraine-Konferenz am US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein im April dieses Jahres) überzeugt, dass die Ukraine den Krieg auf dem Schlachtfeld gewinnen könne. Oberstes Ziel sei es, Russland nachhaltig zu schwächen. Auch aus Russland hören wir, dass die „Spezialoperation“ bis September verlängert werden soll. Wobei das nicht viel zu sagen hat, da der Kreml dann die eine Phase des Krieges für beendet erklären und eine neue eröffnen könnte. Diese Absicht, unbegrenzt Krieg zu führen, liegt im Interesse der kriegstreibenden Eliten in Russland und im Westen. Dabei geht es natürlich um Profit, es geht aber auch um ein konservatives Sicherheitsdenken.

Was meinen Sie mit konservativem Sicherheitsdenken?

Ich meine damit das System der kollektiven Verteidigung, dem diese Eliten anhängen. Der italienische Staatspräsident Sergio Mattarella hat das erkannt. Er hat bei der parlamentarischen Versammlung des Europarates die Bedeutung des Dialogs betont und daran erinnert, dass, um zu gewinnen, der andere nicht notwendigerweise verlieren müsse. Wir könnten alle gemeinsam gewinnen.
Es geht also um kollektive Sicherheit, was bedeutet, dass jeder Staat akzeptiert, dass die Sicherheit eines Staates die Angelegenheit aller ist. Kollektive Verteidigung hingegen bedeutet, dass wir uns gegen jemanden zusammenschließen. So wie wir uns in der Ukraine um Präsident Selenskyj scharen, um Russland zu zerstören, und Russland wird uns zurück zerstören und so weiter. Auch die Nato basiert auf kollektiver Verteidigung – wir mit den USA gegen Russland und später gegen China und dann China gegen uns. So geht das dahin, bis zur Apokalypse, wenn kein Leben mehr auf der Erde sein wird. Auf diese Weise könne der Frieden erreicht werden, wollen sie uns weismachen. Das ist natürlich Blödsinn! Stattdessen sollten wir eine gemeinsame Sicherheit entwickeln und verstehen, dass alle Menschen Teil der Sicherheit der gesamten Menschheit sein sollten. Doch kriegstreiberische Regierungen respektieren die rationale Idee der gemeinsamen Sicherheit nicht.

Wie sehen Sie die Sanktionen gegen Russland?

Die Wirtschaftssanktionen sind für jene russischen Falken von Vorteil, deren pro-westlichen Gegner ihre Beziehungen, ihren Status, ihr Geld und ihre Macht verlieren. Der friedensbewegte Teil der Liberalen in Russland ist ruiniert und gezwungen, in den Untergrund zu gehen. Die Falken unter der Führung Putins haben mehr Macht und einen quasi-legitimen Grund für die weitere Militarisierung des Landes und eine Fokussierung der Wirtschaft auf einheimische Produktion. Dabei drohen die westlichen Sanktionen ins Leere zu laufen, denn mit dem wirtschaftlichen Rückhalt der Eurasischen Wirtschaftsunion und Chinas könnte Russland den Krieg für immer fortsetzen.

Wie könnte ein Weg zum Frieden in der Ukraine aussehen?

Anfang Mai habe ich an einem Panel des Weltsozialforums teilgenommen, bei dem wir über einen möglichen Friedensprozess in der Ukraine gesprochen haben. Vorgeschlagen wurden Autonomie für den Donbass, Neutralität für die Ukraine und eine neue Sicherheitsarchitektur für Europa. Tatsächlich werden diplomatische Bemühungen und der Krieg zunächst parallel laufen, aber im besten Fall wird der Friedensprozess allmählich die Kriegsanstrengungen ersetzen. Unsere Friedensarbeit ist notwendig, um den Ersatz von Kriegsinstrumenten durch Friedensinstrumente zu beschleunigen.
Ich weiß, so einfach, dass die Leute protestieren und gewaltfreien Widerstand leisten und dann endet der Krieg, ist es nicht. Ich wünschte, es wäre so einfach. Ich bin aber sicher: Wenn morgen auf der ganzen Welt Milliarden von Menschen auf die Straße gehen und sagen würden, die Russen sollen aufhören Ukrainer zu töten und umgekehrt, könnte ein solcher Marsch der Milliarden helfen, den Krieg zu beenden. Das ist nicht einfach, aber möglich ist es. Denken Sie an die Friedensbewegung in den 1960er Jahren in den USA, die den Vietnam-Krieg stoppte. Oder in den 1980er Jahren in Europa, als Massenproteste gegen die Stationierung von US-Raketen in Europa einen drohenden Konflikt zwischen den USA und der Sowjetunion verhinderten. Um unsere Welt in eine bessere mit einem friedlicheren Leben zu verwandeln, sollten wir uns dieser Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit erinnern und sie weiterentwickeln.

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